Erschienen inAllgemein
22. Juli 2021

Klimagerechtigkeit und Entkopplung

Die Klimakrise ist eine Frage von Gerechtigkeit. Genauer gesagt von mindestens drei Gerechtigkeiten.

Die erste ist globale Gerechtigkeit. In Deutschland wird pro Kopf fast doppelt so viel CO2 pro Jahr ausgestoßen (8.40 t) wie im globalen Durchschnitt (4.72 t) 1. Gleichzeitig sind wir hier jetzt und in Zukunft deutlich weniger von den Folgen der Klimakrise betroffen als die Menschen in vielen anderen Ländern.

Die zweite ist soziale Gerechtigkeit. In Deutschland waren im Zeitraum zwischen 1990 und 2015 die reichsten 10% für 27% der Treibhausgas-Emissionen verantwortlich, während die ärmeren 50% nur 29% der Emissionen verursacht haben. Und während die ärmere Hälfte über diesen Zeitraum fast ein Drittel ihrer Emissionen eingespart haben, sparte das reichste Prozent überhaupt nichts. Gleichzeitig wird es genau dieser ärmeren Hälfte schwerer fallen, sich vor den Folgen der Klimakrise zu schützen. 2

Die dritte ist Generationengerechtigkeit. Was wir heute ausstoßen, kann in Zukunft nicht mehr ausgestoßen werden, wenn wir die schlimmste Version der Klimakrise vermeiden wollen. Und falls uns das nicht gelingen sollte, müssen die voraussichtlich katastrophalen Konsequenzen eh überall auf der Welt diejenigen ausbaden, die am wenigsten dafür verantwortlich sind: junge und zukünftige Generationen.

Gedankenexperiment: eine “klimagerechte” Welt?

Legen wir mal als ersten Versuch eine komplett naive Sicht auf Klimagerechtigkeit zugrunde: Nehmen wir an, ein gewaltiger Ruck ginge durch die Welt und irgendwie gelänge es, den CO2-Ausstoß global und innerhalb der Gesellschaften vollständig gleich zu verteilen. Jeder einzelne Mensch auf Erden wäre exakt für den globalen Durchschnitt von 4.72 t pro Kopf und Jahr verantwortlich.

Flugreisen wären zwar schwierig, wenn man den Rest des Jahres noch heizen oder was essen will, aber etwa die durchschnittliche Lebensweise von Portugal (4.75 t) bekäme man damit hin.

Aber die Klimakrise hat in vielen Teilen der Welt ja jetzt schon verheerende Folgen. Und die Folgen sind immer noch ungerecht verteilt. Außerdem bleibt ja noch die dritte Gerechtigkeit. Damit zukünftige Generationen halbwegs klarkommen, brauchen wir dringend eine Begrenzung auf maximal 1,5° C. Und für dieses 1,5°-Ziel bleiben laut IPCC noch 580 Gt CO2 (seit 2018). Das heißt, unser utopisches klimagerechtes Gedankenexperiment könnten wir noch ungefähr 12 Jahre lang laufen lassen. Nach Ablauf dieser 12 Jahre emittiert jede Person genau null Tonnen CO2 oder uns fliegt das Klima um die Ohren.

Okay, dann müssen wir uns alle eben ein Bisschen mehr zurücknehmen. Suffizienz heißt das Zauberwort. Der Lebens- und Emissionsstandard von Portugal ist eben etwas zu hoch, das dürfen wir uns dann halt nicht mehr leisten. Und weil wir ein utopisches Gedankenexperiment machen, einigen wir uns alle in friedlicher Eintracht auf den Lebens- und Emissionsstandard von, sagen wir mal Namibia (1,67 t).

Unsere (dafür viel zu großen) Gebäude zu heizen fällt zwar schwer, Autofahren ist Luxus, Fleisch können wir uns nur noch selten leisten, an Fliegen ist gar nicht mehr zu denken. Aber was tut man nicht alles für das Klima. Trotzdem: auch diese Utopie fällt spätestens 2061 in sich zusammen, denn auch sie braucht keine 40 Jahre um das Budget für 1,5° C zu überziehen.

So wird klar: Es ist nicht nur ein Verzichts- und Verteilungsproblem, wir müssen zusätzlich ganz fundamental die Art und Weise ändern, wie wir unsere Bedürfnisse befriedigen, sonst bekommen wir die Klimakrise nicht in den Griff. Ich will damit nicht die Fragen von globaler und sozialer Verteilung kleinreden, denn auch sie verlangen fundamentale Veränderungen. Aber dabei geht es eben um Gerechtigkeit, nicht um das Verhindern der Klimakrise, denn das können wir damit allein nicht.

Vier Entkopplungen für ein Halleluja

Aber wie schaffen wir es denn dann die Klimakrise zu verhindern und wirklich weniger CO2-Äquivalente auszustoßen? Auf diese Frage gibt es natürlich tausend und eine Antwort, je nachdem, wen man fragt: Kohleausstieg, CO2-Preis, Emissionshandel, Vermeiden von Inlandsflügen, Tempolimit, Konsumreduktion, Atomkraft, Veganismus, Land Sparing, Bioökonomie, Degrowth, sozial-ökologische Transformation, Kreislaufwirtschaft, …

Aber ich denke, wenn man einen Schritt zurückgeht, lassen sie sich letztlich auf ein gemeinsames Prinzip herunterbrechen: Wir müssen die Art und Weise, wie wir unsere Bedürfnisse befriedigen, vom CO2-Ausstoß entkoppeln.

Mit Bedürfnissen meine ich hier alles, was etwa die Maslowsche Bedürfnishierarchie so hergibt. Über Details und Gewichtungen verschiedener Bedürfnisse lässt sich natürlich streiten. Aber klar ist: Menschliche Bedürfnisse müssen in Zukunft nicht weniger, sondern im Gegenteil viel mehr befriedigt werden: noch wächst die Weltbevölkerung und für viele Menschen sind noch immer selbst grundlegende Bedürfnisse, wie ausreichend und gesundes Essen, sauberes Trinkwasser oder medizinische Versorgung nicht erfüllt.

Also: global wachsende Bedürfnisbefriedigung bei gleichzeitig drastisch sinkenden Emissionen, da sollte es in der Umweltbewegung eigentlich keinen Dissens geben. Aber warum gibt es dann so viel Drama um den richtigen Weg?

Verschiedene „Entkopplungen“

Als Kybernetiker erlaube ich mir mal eine sehr systemtheoretische, aber natürlich auch brutal vereinfachte Betrachtungsweise: Die menschliche Zivilisation ist ein System, das die Bedürfnisse von Menschen befriedigen soll. Eine Maschine, wenn man so will, wo am Ausgang befriedigte Bedürfnisse herausfallen. Am Eingang muss leider kontinuierlich „CO2-Ausstoß“ (und noch einiges anderes) in die Maschine gefüttert werden, damit sie weiterläuft. Entkopplung ist also nichts anderes, als diese Maschine effizienter zu machen.

Diese Maschine ist aber ja keine „Black Box“. Wir können beliebig detailliert in sie hineinschauen und tatsächlich machen ja auch die verschiedenen Wissenschaften von der Ökonomik über Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaften bis hin zu Nachhaltigkeitswissenschaften seit vielen Jahren wenig anderes als die Maschine mit verschiedensten Werkzeugen zu sezieren. Aber behalten wir noch etwas Abstand.

Eine wichtige Kenngröße der Maschine und ihrer nationalen Untereinheiten scheint die Wirtschaftsleistung, gemessen in Bruttoinlandsprodukt (BIP), zu sein. Und das ergibt ja auch irgendwie Sinn, Bedürfnisse werden ja nicht direkt durch das Ausstoßen von CO2-Äquivalenten gedeckt, sondern im weitesten Sinne durch Waren und Dienstleistungen und die lassen sich am einfachsten über ihren Geldwert auf eine einzelne Zahl zusammenfassen. Vielleicht ergibt es also Sinn, die Maschine in zwei Teile aufzuteilen: einen, der CO2-Ausstoß in BIP verwandelt und einen, der BIP zu Bedürfnisbefriedigung macht.

Wir könnten jetzt unendlich lange damit weitermachen, das System in kleinere mehr oder weniger sinnvolle Einheiten aufzuteilen, aber ich greife hier nochmal eine Aufteilung heraus: Die sogenannte Kaya-Identität, die auch im IPCC Sonderbericht zu Emissionsszenarien aus dem Jahr 2000 eine zentrale Rolle gespielt hat, schaltet zwischen die Emissionen und das BIP noch den Energieverbrauch (natürlich im Sinne von „Verbrauch nutzbarer Energie“). Das ist deswegen sinnvoll, weil die Wirtschaftsleistung hauptsächlich über den Energieverbrauch zu Treibhausgas-Emissionen beiträgt. Zumindest dachte man das im Jahr 2000. Heute nimmt man mehr und mehr auch Emissionen aus Landnutzung und Landnutzungsänderung in den Blick (etwa im IPCC Sonderbericht zu Landnutzung von 2019).

Wir haben das Ganze also in 4 Teilsysteme aufgeteilt:

  1. CO2-Emissionen zu Energie
  2. CO2-Emissionen zu Landnutzung
  3. Energie und Landnutzung zu BIP
  4. BIP zu Bedürfnisbefriedigung

Und jedes dieser Teilsysteme können wir effizienter machen. Es geht also am Ende nicht nur um die eine „Entkopplung“, sondern um mindestens vier Entkopplungen. Damit lassen sich meiner Ansicht nach auch die Unterschiede zwischen verschiedenen Ansätzen zum Klimaschutz sehr gut erklären: Es sind einfach verschiedene Entkopplungen, die unterschiedlich priorisiert werden.

Ein paar Beispiele

  • Die Forderung nach dem Kohleausstieg bezieht sich auf Entkopplung 1: Energieerzeugung mit weniger CO2-Emissionen.
  • Wer sich etwa für Climate-Smart Agriculture einsetzt, hat Entkopplung 2 im Blick: Landnutzung mit weniger CO2-Emissionen.
  • Strategien wie Land Sparing oder Verbesserungen der Energieeffizienz von Prozessen sollen im Sinne von Entkopplung 3 Waren und Dienstleistungen bei weniger Energieeinsatz oder Landnutzung erzeugen.
  • Und schließlich zielen Anhänger*innen der Degrowth-Bewegung, die ein besseres Leben bei weniger Wirtschaftsleistung (etwa durch gleichmäßigere Verteilung) anstreben, auf Entkopplung 4.

Fazit

Für echte Klimagerechtigkeit kommen wir an der Entkopplung des Gesamtsystems nicht vorbei. Aber unabhängig davon, in welchem Teilsystem eine Entkopplung gelingt, es trägt immer dazu bei, das Gesamtsystem effizienter zu machen, also mehr Bedürfnisbefriedigung bei weniger Emissionen zu ermöglichen.

Und das Schöne ist: Die einzelnen Entkopplungen schließen einander in den allermeisten Fällen nicht aus! Natürlich können wir gleichzeitig unsere Energie klimafreundlicher erzeugen, weniger davon verbrauchen und sie gerechter verteilen. Wir können gleichzeitig die Landwirtschaft ökologischer und platzsparender machen und zusätzlich dafür sorgen, ihre Produkte effektiver zu nutzen.

Wie die vier Entkopplungen jeweils umgesetzt werden könnten, welche Einsparungspotenziale sich dahinter verbergen und welche Ansätze es gibt, die vier Entkopplungen zu messen, sind spannende Fragen, die wir uns weiterhin hier im Öko-Progressiven Netzwerk stellen wollen. Dabei seid ihr herzlich eingeladen mitzumachen!

Johannes Kopton

Einzelnachweise

  1. Quelle: https://ourworldindata.org/per-capita-co2
  2. Quellen: https://www.oxfam.org/en/research/confronting-carbon-inequality-european-union https://www.sei.org/projects-and-tools/tools/emissions-inequality-dashboard/

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